Es ist das Jahr 1950 und aus der Sicht von Noemi Taboada ist Mexiko-Stadt ein Hort der Möglichkeiten. Die junge Frau aus gutem Hause besucht Partys, wechselt jedes Semester ihre Studienfächer und datet mit halbherziger Leidenschaft gleichaltrige Männer. Dennoch ist es kein urbanes Abenteuer, das ihre Welt auf den Kopf stellt, sondern ausgerechnet der Brief einer Cousine, der sie zwingt, familiären Verpflichtungen nachzugehen.
Ein viktorianisches Anwesen in der mexikanischen Provinz
„Der Mexikanische Fluch“, im Original: „Mexican Gothic“, von Silvia Moreno-Garcia beschreibt Noemis gruselige Abenteuer, die sie in der ländlichen Provinz erlebt. Dorthin hat es ihre Cousine Catalina verschlagen, nachdem sie den wohlhabenden Virgil Doyle geheiratet hat. Dessen aus England stammende Familie hat sich mit ihrem Stammsitz High Place ein Anwesen errichtet, dass nicht nur die britische Kultur, sondern im speziellen auch viktorianische Lebensweisen konserviert, die wie aus der Zeit gefallen scheinen.
Dadurch entsteht ein spannender Gegensatz zwischen der weltoffenen Noemi und der erzkonservativen Doyle-Familie, die im 19. Jahrhundert feststeckt. Dabei kehren sich traditionelle Erzählmuster um, in denen meist männliche Europäer mit modernem Pragmatismus durch Entwicklungs- und Schwellenländer reisen und die Traditionen der Einheimischen beschmunzeln. Diese Arroganz ist auch bei den Doyles zu spüren, deren Patriarch Howard Doyle eine feudal anmutende, radikalkapitalistische Gutsherrenmentalität pflegt, eugenische Zeitschriften studiert und über die perfekte Mischung der Menschenrassen sinniert.
Europäische Rückschrittlichkeit
Zum Zeitpunkt der Handlung liegen der Zweite Weltkrieg und die eugenischen, rassistischen Verbrechen der Nationalsozialisten erst einige Jahre zurück. So fällt es Noemi anfangs noch leicht über die Ansichten des hochbetagten, bettlägerigen Senioren hinwegzusehen, zumal sie diese auch von anderen Männern der gehobenen Gesellschaft kennt und auf dem absteigenden Ast sieht. Wichtiger ist ihr, den Zustand ihrer Cousine Catalina zu klären, die in ihrem Brief von schrecklichen Alpträumen und Stimmen aus den Wänden schreibt, Noemi gegenüber jedoch eher melancholisch und chronisch geschwächt auftritt. An den Brief erinnert sie sich angeblich nicht.
Dass die Doyles und ihr englischer Hausarzt Catalinas Zustand lapidar mit Tuberkulose erklären, zeigt deutlich, dass sich die Welt außerhalb ihres Anwesens ohne ihr Wissen weiterentwickelt hat. Der Arzt des kleinen Ortes nahe High Place teilt Noemi seine Verwunderung über die Diagnose seines Kollegen mit, ist die Krankheit in der Gegend dank moderner Medizin doch schon lange ausgerottet.
Eher britisches als mexikanisches Flair
Überhaupt dürften jene enttäuscht sein, die sich in „Der Mexikanische Fluch“ einen Einblick in lokale Folklore erhoffen. Selbst eine ältere Heilerin, von der Catalina im geheimen eine hilfreiche Arznei bezieht, hat neben einer dezenten Heiligenverehrung und einigen volkstümlichen Redewendungen handfeste Ratschläge parat und kann Noemi vor allem einige Details zur Familiengeschichte der Doyles verraten.
Auch die Weltsicht von Noemi ist durch den Konsum klassischer englischer Literatur geprägt. Kein Kapitel vergeht, ohne dass sie ihre Situation oder Umgebung mit Werken von Mary Shelley, Emily Brontë oder anderen vergleicht. Dies wirkt bisweilen ermüdend und sorgt vor allem an gruseligen Stellen für eine handlungsausbremsende Distanz, erschafft aber auch eine gewisse Vertrautheit, wenn man mit den literarischen Referenzen bekannt ist.
Grauenhafte Traumvisionen
Insgesamt ist das Erzähltempo gut gestaltet und Silvia Moreno-Garcia schafft es, die Spannung durchgehend zu halten. Nach und nach kommt Noemi hinter das Geheimnis der Doyles und den Ursprung von Catalinas seltsamen Verhalten. Dabei erlebt sie selbst immer häufiger die düsteren Traumvisionen, die aus den Wänden kommenden Gestalten, die ihre Cousine erwähnte. Diese Szenen sind schaurig und bedrückend, ist man sich doch zunehmend unsicher, ob die teils sexuellen Übergriffe der Traumgestalten nicht doch real sind.
Tatsächlich ist die Auflösung des Schreckens originell, wird in der endgültigen Zuspitzung der Handlung aber auch etwas holprig und zu abstrakt dargestellt. Dennoch entsteht dadurch der angenehm beunruhigende Eindruck, dass sich das Grauen von High Place eben weder mit Wissenschaft noch mit gängiger Folklore erklären lässt.
„Der Mexikanische Fluch“ kehrt bekannte Erzählmuster erfrischend um
„Der Mexikanische Fluch“ ist ein solider Horrorroman, der bekannte Erzählmuster gekonnt umkehrt und lebhaft beschriebene Figuren beinhaltet. Noemi wird als Hauptfigur zunehmend sympathischer, je mehr sie sich von ihrer eingangs genannten Leichtlebigkeit entfernt. Jede Erschütterung lässt sie nur entschlossener den Geheimnissen der Doyles auf den Grund gehen und führt schließlich zu Entscheidungen, dank derer sie ihren Weg im Leben findet.
Silvia Moreno-Garcia gelingt es, dass man beim Lesen selbst nicht mehr locker lassen kann und Gewissheit erlangen möchte. Zwar zieht sich das Buch in der Mitte, die Handlung für einige Kapitel auf der Stelle tritt, gegen Ende wird es aber trotz einiger Verwirrungen zum fesselnden Pageturner. Dadurch ist zu verschmerzen, dass sich der Roman trotz des Titels als klassische englische Horrorgeschichte präsentiert und nur sehr selten auf mexikanische Einfärbungen setzt.
Beitragsbild: Fotografie von Marc Thorbrügge, 2019
Fußnoten
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